Byung-Chul Han hat das Café Liebling im Prenzlauer Berg als Treffpunkt vorgeschlagen. Der scheue Philosoph lehrt an der Berliner Universität der Künste und hat mit Büchern über die "Müdigkeitsgesellschaft" und die "Transparenzgesellschaft" Furore gemacht. Er meidet Interviews.

Die für das Treffen vereinbarte Uhrzeit ist seit zehn Minuten überschritten. Lässt er uns sitzen? Da kommt Han mit dem Fahrrad die Straße herunter. Er setzt sich und bestellt eine Cola.

ZEIT Wissen: Woher kommen Sie gerade?

Byung-Chul Han: Vom Schreibtisch, wie immer.

ZEIT Wissen: Woran arbeiten Sie?

Han: Ich schreibe an einem neuen Buch über das Schöne. Den Entschluss habe ich gefasst, als ich ein Interview mit Botho Strauss las. Auf die Frage "Was fehlt Ihnen?" antwortet Botho Strauss: "Das Schöne." Mehr hat er nicht gesagt – mir fehlt das Schöne, und ich habe das begriffen. Dann dachte ich mir, ich schreibe ein Buch über das Schöne.

ZEIT Wissen: Sie denken nun über das Schöne nach. Wie sieht denn das Denken konkret aus?

Han: Denken besteht darin, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Ich mache oft die Erfahrung, dass ich plötzlich Ähnlichkeiten zwischen Ereignissen wahrnehme, zwischen einem gegenwärtigen Ereignis und einem früheren Ereignis. Oder zwischen den Dingen, die gleichzeitig stattfinden. Ich gehe diesen Beziehungen nach.

ZEIT Wissen: Und was heißt das für das Schöne?

Han: Ich nehme einen Zusammenhang wahr zwischen verschiedenen Dingen, die heute stattfinden oder die heute beliebt sind. Zum Beispiel Brazilian Waxing, die Skulpturen von Jeff Koons und das iPhone.

ZEIT Wissen: Sie vergleichen die Entfernung von Körperhaaren mit einem Smartphone und einem Künstler?

Han: Die Gemeinsamkeit ist doch ganz einfach zu sehen: Es ist das Glatte. Das Glatte charakterisiert unsere Gegenwart. Kennen Sie das G Flex, ein Smartphone von LG? Dieses Smartphone ist mit einer besonderen Beschichtung versehen: Wenn Kratzer entstehen, dann verschwinden diese nach kürzester Zeit, es hat also eine selbst heilende Haut, fast eine organische Haut. Das heißt, das Smartphone bleibt ganz glatt. Ich frage mich: Warum stören einen ein paar Kratzer, die auf einem Gegenstand entstehen? Warum dieses Streben nach einer glatten Oberfläche? Schon eröffnet sich ein Zusammenhang zwischen dem glatten Smartphone, der glatten Haut und der Liebe.

ZEIT Wissen: Liebe? Das müssen Sie bitte erklären.

Han: Diese glatte Oberfläche des Smartphones ist eine Haut, die nicht verletzbar ist, die sich jeder Verletzung entzieht. Und ist es nicht tatsächlich so, dass man auch in der Liebe heute jede Verletzung meidet? Man will nicht verletzlich sein, man scheut jedes Verletzen und jedes Verletztsein. Für die Liebe braucht man einen hohen Einsatz. Aber man meidet diesen hohen Einsatz, weil er zur Verletzung führt. Man vermeidet Leidenschaft, und in Liebe zu verfallen ist schon zu viel Verletzung.

Man darf nicht mehr in Liebe verfallen, im Französischen würde man sagen "tomber amoureux". Dieses Fallen ist zu negativ, schon eine Verletzung, die zu vermeiden ist. Das verbinde ich mit einem anderen Gedanken ...

Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 5/2014, das am Kiosk erhältlich ist.

Wir leben in einem Zeitalter des "Like". Es gibt keinen "Dislike"-Button bei Facebook, es gibt nur "Like". Und dieses "Like" beschleunigt Kommunikation, während "Dislike" die Kommunikation stocken lässt. Auch eine Verletzung lässt die Kommunikation stocken. Selbst die Kunst will heute nicht mehr verletzen. Bei Jeff Koons’ Skulpturen gibt es keine Verletzung, keine Brüche, keine Risse, keine Bruchstellen, keine scharfen Kanten, auch keine Nähte. Alles fließt in weichen, glatten Übergängen. Alles wirkt abgerundet, abgeschliffen, geglättet – Jeff Koons’ Kunst gilt glatter Oberfläche. Heute entsteht eine Kultur der Gefälligkeit. Das kann ich auch auf die Politik beziehen.

ZEIT Wissen: Entsteht also eine glatte Politik?

Han: Auch die Politik meidet heute jeden hohen Einsatz. Es entsteht eine Politik der Gefälligkeit. Wer ist ein exemplarischer Politiker dieser Gefälligkeit? Vielleicht Angela Merkel. Daher ist sie ja auch so beliebt. Sie hat offenbar keine festen Überzeugungen, keine Visionen. Sie schaut auf die Straße, und je nach der Stimmung auf der Straße ändert sie die Meinung. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima ist sie plötzlich gegen Atomkraft. Man könnte auch sagen, sie ist aalglatt. Heute haben wir es tatsächlich mit einer glatten Politik zu tun.

Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen glatter Haut, glatter Kunst und glatter Politik. Die politische Handlung im emphatischen Sinne braucht aber eine Vision und einen hohen Einsatz. Sie muss auch verletzen können. Das tut aber die glatte Politik von heute nicht. Nicht nur Angela Merkel, sondern die Politiker von heute sind nicht fähig dazu. Sie sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus. Im Neoliberalismus ist jeder von uns Unternehmer seiner selbst. Kapitalismus zu Zeiten von Marx hatte eine ganz andere Arbeitsstruktur. Die Wirtschaft bestand aus Fabrikbesitzern und Fabrikarbeitern, und kein Fabrikarbeiter war der Unternehmer seiner selbst. Es fand eine Fremdausbeutung statt. Heute findet eine Selbstausbeutung statt – ich beute mich aus in der Illusion, dass ich mich verwirkliche.